Abschied auf Raten: Das Elternhaus verlassen

von | 02.02.2015 | Herzensräume, Ilona Dörr-Wälde, Wohnberatung | 1 Kommentar

Welchen Stellenwert hat eine Wohnung, ein Haus für mich? Bestimmt es mich oder bestimme ich es? Bietet das Haus oder die Wohnung Raum für Veränderung, für Leben, passt es sich meinem Leben an – oder wird es zum reinen Selbstzweck, zum Inhalt meines Lebens? Viele Menschen wollen beispielsweise ihr Haus nicht verlassen, um einen neuen Job an einem anderen Ort anzunehmen – und nehmen dafür in Kauf, arbeitslos zu sein. Sicher, unser Heim ist sehr wichtig, ist identitätsstiftend, gewährt uns Rückzug, Schutz und Sicherheit. Aber dennoch sollte das Leben die Wohnung bestimmen, nicht die Wohnung das Leben.

Bin ich bereit für Veränderung?

Es verändert sich etwas in einem Haus, wenn beispielsweise die erwachsen gewordenen Kinder ausziehen. Manche Eltern verkraften diese Veränderung nur schwer. Sie lassen die Räume der Kinder so, wie sie am Tag des Auszugs waren und machen ein Museum daraus. Das kann dazu führen, dass sie innerlich ihre Kinder nie loslassen. Ich denke, dass es wichtig ist, leergewordene Räume und damit die Veränderung zu bejahen, und den, der darin gelebt hat, bewusst zu verabschieden. Danach kann der Raum neu gestaltet werden. Im Falle der Kinder ist es schön, wenn es darüber ein gemeinsames Gespräch gibt.

Loslassen – auch von vertrauten Dingen

Auch wenn die eigenen Eltern alt und pflegebedürftig werden oder sterben, gibt es Veränderungen im Haus oder der Wohnung – Abschied und Loslassen sind dann die wichtigsten Themen. Dazu gehört auch, dass die Dinge, die ihnen gehört haben, verabschiedet werden. Verstehen Sie mich nicht falsch: Erinnerungen an einen geliebten Menschen wie Fotos, Briefe oder ähnliche persönliche Dinge wegzuwerfen, wäre grausam. Aber das, was ihnen ihren Stil, ihr Wohlgefühl, ihre Ästhetik gegeben hat, sollte man verabschieden – achtsam, mit viel Respekt und nach einem angemessenen Zeitraum.

Das geliebte Elternhaus verlassen

Nach einem Sturz war meine Mutter in ein Pflegeheim gekommen – zu Hause konnte sie nicht mehr gut genug versorgt werden. Sieben Monate später war sie gestorben. Nur wenige Stunden nach ihrem Tod musste ihr Zimmer geräumt werden, denn der Platz wurde für eine neue Bewohnerin benötigt. In dieser Situation fühlte ich mich wirklich überrumpelt. Sollte ich jetzt tatsächlich alle ihre persönlichen Sachen nehmen, sie in einen großen Sack stecken, und das war es dann? Aber dann merkte ich erleichtert, was wirklich Sache war: Meine Mutter war ja noch gar nicht von zu Hause ausgezogen. Als sie ins Pflegeheim gegangen war, war das so, als sei sie vorübergehend ins Krankenhaus gekommen. Also nahm ich alle ihre Sachen aus dem Pflegeheimzimmer, nahm sie mit in ihr Haus und brachte sie dort wieder an die Plätze, an die sie gehörten. So war es gut und richtig.

Gegenstände symbolisieren die Themen des Lebens

Erst einige Zeit später räumte ich dann gemeinsam mit meinen Geschwistern das Haus meiner Mutter aus. Zimmer für Zimmer nahmen wir uns vor, nach den Themen des Lebens. Das war für uns leichter, als einzeln über die Dinge zu entscheiden: Was kommt wohin, wer möchte was haben, was wird weggeworfen? Gerade beim Thema Kleidung habe ich gemerkt, wie gut es mir tat, diese nicht einfach in einen Sack zu stopfen. Meine Schwägerin und ich packten ihre Kleidung in Koffer, was viel Zeit brauchte, und trugen sie nach unten in den Hausflur. Neben dem Schmerz spürte ich Dank und Wertschätzung. Es war, als ob meine Mutter aus ihrem Haus auszieht.

Das Lieblingssofa meines Vaters

Als wir irgendwann das Esszimmer ausgeräumt hatten, alles in Kisten zum Abtransport bereitstand und nur noch das alte Sofa übrig war, verstummten wir auf einmal. Dieses Sofa – was hatten wir nicht darauf herumgeturnt, als wir noch Kinder waren. Und nicht nur wir – unsere Cousins, ebenso die Kinder meiner Brüder. Alle hatten dieses Sofa geliebt. Es war immer ein zentraler Punkt im Haus meiner Eltern gewesen. Und nun sagte mein ältester Bruder: „Wollen wir das wirklich weggeben?“, und der jüngere, fast gleichzeitig. „Lassen wir das noch da?“ Wir mussten alle drei lachen. Das Sofa steht tatsächlich heute noch im Haus unserer Eltern, das ansonsten fast leer ist. Wir haben es noch nicht geschafft, uns davon zu verabschieden, es loszulassen. Dieser Zeitpunkt wird kommen, da habe ich keine Bedenken. Aber noch ist er nicht da.

Eine neue Lebensphase ohne die Eltern

Dieser Moment war auch ein sehr schöner in der Beziehung unter uns Geschwistern. Er symbolisierte, dass nun auch für uns eine neue Zeit anbrach. Wir übertrugen das Vertrauen, das wir in unsere Eltern gehabt hatten, nun in die Beziehung, die sich zwischen uns ergab. Wir hatten keine Eltern mehr, die sich um den Zusammenhalt der Familie kümmerten, diese Rolle würden wir jetzt selbst übernehmen müssen. Und wir mussten die Inhalte unserer Beziehung neu definieren. Die Pflege unserer Eltern hatte unser Zusammensein in den letzten Jahren bestimmt, das würde sich nun auch ändern. Und diese Veränderungen hießen wir willkommen, indem wir dort, in unserem Elternhaus das taten, was dafür nötig ist: Altes loslassen, verabschieden, neue Inhalte, neues Leben begrüßen und gestalten, im übertragenen wie im tatsächlichen Sinne. Wer das tut, fühlt sich wohl und sicher, daran glaube ich fest.

Wie wir Leben und Leidenschaften ordnen

„Unsere Reise durch die Zeit ist dazu da, dass wir unser Leben und unsere Leidenschaften ordnen“ – das sagte Leanne Payne einmal. Und dieser Satz bringt sehr gut auf den Punkt, was ich hier meine. Wenn ich es so verstehe, dass sich mein Leben auf der Reise durch die Zeit entfaltet, ist das, was passieren und sich verändern kann, eine Chance, mein Leben und meine Wohnung neu zu ordnen – auf dass ich werden kann, was ich bin. Nur indem ich mit Veränderungen so umgehe, dass sie mich nicht bremsen, dass sie mich nicht aufhalten, werde ich zu einer reifen Person, die auch für andere Menschen interessant und damit beziehungsfähig ist.


Rainer Wälde

Rainer Wälde liebt es, durch Filme, Bücher und Vorträge seine Zuhörer in ihrer Originalität zu ermutigen.
In seinem wöchentlichen Blog erzählt er ihre Geschichten.

www.rainerwaelde.de

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1 Kommentar

  1. Ich räume seit einem Jahr mein Elternhaus aus.Nach dem Tot meines Vaters
    im Januar 2015. Nun soll es verkauft werden und ich erlebe eine Achterbahn
    der Gefühle.Es fällt mir so schwer los zu lassen.Es ist ein Fachwerkhaus von
    1750 im bergischen Land (NRW).Es liegt direkt am Wald und hat einen wunderschönen kleinen Garten, den ich gestaltet und gepflegt habe.Ich liebe
    die Ruhe dort und das Gefühl zu Hause zu sein kann ich nur dort richtig spüren.
    Es ist wie nochmal trauern und etwas ganz besonders wertvolles zu verlieren.
    Hoffentlich wachse ich daran und kann loslassen.