Muss ich noch 1.000 Orte besuchen, bevor ich sterbe?

von | 17.02.2020 | Biografie

Die Sehnsucht nach einem authentischen Leben scheint grenzenlos: Bei Instagram posten junge Menschen tausendfach Fotos von verlorenen Orten. Junge Influencer jetten um den Globus und berichten mit kunstvoll bearbeiteten Bilder von ihrer Reise. Sie suchen dabei nach einer inneren Heimat und eigentlich nach sich selbst.

Foto: Shutterstock

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Erinnern Sie sich noch an die Schleuderautomaten im Schwimmbad? Nasse Badehose rein, Knopf an und immer schneller dreht sich die Trommel. Das feuchte Textil wird an die Wand gedrückt, der letzte Tropfen ausgequetscht. Dieses Bild aus meiner Kindheit erinnert mich an unser gesellschaftliches Leben: Der Job fordert von uns, immer erreichbar, immer verfügbar zu sein. In der Freizeit fordern die sozialen Netzwerke zusätzliche Aufmerksamkeit: Whatsapp, Facebook, Instagram, Youtube – im Minutentakt blinken die Nachrichten auf. Das digitale Leben entwickelt seine zentrifugalen Kräfte.

Zugegeben: An meinem letzten Geburtstag habe ich zum ersten Mal resigniert. Es kamen Hunderte von Glückwünschen auf den unterschiedlichsten Kanälen. Meine Umgangsformen setzten mich zusätzlich unter Druck: Du musst dich bei allen persönlich bedanken! So sehr ich mich über jeden Glückwunsch freute – das 24-stündige Feuerwerk der guten Wünsche war zu viel für meinen Energiehaushalt. Frustriert musste ich eingestehen: Ich schaffe es nicht mehr, jedem persönlich ein „Danke“ zu schreiben. 

Sehnsucht nach einem Schutzraum

Es gibt ein neues Modewort: „Digital Detox“ – digitales Entgiften. In der letzten Woche habe ich es mal wieder ausprobiert: sieben Tage ohne Mails und soziale Netzwerke. Gedruckte Bücher statt elektronischem Lesegerät und auch keine Online-Zeitung. Stattdessen: Analoges Leben wie vor 20 Jahren. Viel Zeit zum Nachdenken. Drei Bücher habe ich gelesen, bewusst wieder die Vögel zwitschern gehört. Spaziergänge und tiefe Gespräche mit meiner Frau. 

Ich merke, wie gut mir diese analogen Schutzräume tun. Der Handy-Nacken entspannt sich, wenn er nicht mehr auf einen kleinen Monitor schauen muss. Die Sinne werden neu aktiviert. Gleichzeitig spüre ich mich wieder selbst, die Kreativität erwacht, neue Ideen stehen auf. Ich erlebe eine große Lust, das echte und ursprüngliche Leben zu spüren: die Arme auszubreiten und den Herbstwind zu fühlen, Regentropfen im Gesicht, feuchtes Gras unter meinen Füßen. 

Geborgen sein in einer Welt der Uferlosigkeit

Ich bin dankbar für einen wachen Verstand und meine schnelle Auffassungsgabe: In kurzer Zeit kann ich komplexe Zusammenhänge erfassen und gut auf den Punkt bringen. Das hilft mir als Filmemacher, einen Menschen in drei Minuten vorzustellen oder ein Leben in sechzig Minuten zu portraitieren. Gleichzeitig erlebe ich, wie meine Umwelt immer komplexer wird. Wie sicher geglaubte gesellschaftliche Fundamente wanken. Wie soll ich bei dem permanent zunehmenden Tempo noch den Überblick behalten? 

Ich erinnere ich mich an den irischen Mönch Cuthbert, dessen Spuren ich in einem meiner Filme gefolgt bin: Ab 664 lebte er auf Insel Lindisfarne vor der Ostküste Großbritaniens. Im Wechsel der Gezeiten klagte er schon vor 1.400 Jahren über Besucher, die bei Ebbe auf die Insel kamen und seine Ruhe störten. Deshalb traf er 676 die Entscheidung, für einige Jahre als Einsiedler auf der kleinen Insel Inner Farne zu leben. Cuthbert nahm Abschied – von Lindisfarne, vom Klosterritus, vom Leben in Gemeinschaft mit den anderen Mönchen. In meinen Augen ist Cuthbert ein sehr mutiger Mann – der in der Einsamkeit und in der Abgeschiedenheit seiner Eremitage nach Antworten auf seine Fragen suchte. Auch für mich persönlich sind solche Auszeiten elementar wichtig, um in einer Welt der Uferlosigkeit nicht den Halt zu verlieren. 

Der innere Zwang, nichts zu verpassen

Gute Freunde wissen, dass ich ein News-Junkie bin: Ich liebe es, morgens auf dem Hometrainer die Tageszeitung zu lesen und mich über aktuelle Entwicklungen zu informieren. Sehr gerne lese ich auch „Die Zeit“ und „Der Spiegel“, um gesellschaftliche Trends früh wahrzunehmen. Doch wenn ich nicht aufpasse, treibt mich meine Neugier in eine Phase der Überlastung: Mein innerer Zwang, nichts zu verpassen, wird zur Belastung. Wie beim Essen spüre ich plötzlich, dass ich mir meinen Informationsmagen verdorben habe. 

Immer wieder mache ich Fastenkuren. Gestern habe ich „Die Zeit“ abbestellt – bereits zum dritten Mal. Obwohl ich die exzellenten Dossiers liebe. Ich lege bewusste Medienpausen ein, um nicht durch zu viel des Guten meinen Geschmack zu verlieren. Gleichzeitig gewinne ich Zeit für Freundschaften, für tiefe Begegnungen. Auch Zeit, um neue Menschen kennenzulernen: Gestern Abend hatten meine Frau und ich ein Unternehmerpaar zum Essen eingeladen. Bislang hatten wir nur Smalltalk geführt, doch gestern lernten wir uns auf einer herzlichen Ebene persönlich schätzen. Dieses Gespräch klingt immer noch in mir nach, erzeugt Glücksgefühl und ich freue mich schon auf eine Fortsetzung.

Zurück zu den Quellen des Lebens

An Abenden wie diesem komme ich zurück an die Quellen meines Lebens: Es sind nicht die flüchtigen Kommentare bei Facebook und Co, die mich glücklich machen, sondern die ehrlichen Gespräche an einem Tisch. Besonders berührt hat mich das Feedback des Unternehmers am Ende des Abends. Zu Beginn hatten meine Frau und ich erzählt, dass wir in Nordhessen immer noch nach unserer Rolle suchen. Beim Verabschieden kam die Antwort: „Sie geben den Menschen in der Region wieder ihr Selbstbewusstsein zurück! Den Stolz auf ihre eigene Heimat.“

In diesem Moment wird mir bewusst, wie begeistert ich seit zwei Jahren von Nordhessen erzähle. Als gebürtiger Freudenstädter habe ich lange Jahre unter der Enge des Schwarzwaldes gelitten. Die dunklen Tannen kamen mir wie ein Vorhang vor, der den Horizont verbarg. In meiner neuen Heimat genieße ich die weite hügelige Landschaft, der freie Blick vom Gutshof über 50 Kilometer hinweg bis zum Kellerwald mit dem beliebten Edersee und den Ausläufern von Kassel. 

Gleichzeitig ist mir bewusst, wie wichtig auch die Versöhnung mit den Orten der eigenen Geschichte ist: In meinem 50. Lebensjahr habe ich über Monate alle Stationen meines bisherigen Lebens besucht und darüber auch mit Gundula Gause ein Buch geschrieben: „Die Landkarte des Lebens“. In der Biografie-Schmiede arbeiten wir aktiv mit diesem Modell, um diese Quellen wieder frei zu leben und daraus neue Energie zu schöpfen. Ilona und ich freuen uns, wenn die verlorenen Orte wieder als Schatz der eigenen Geschichte zurückkommen. Das setzt eine neue Dynamik frei und eine starke Lebenslust. 

Der Druck, verlorene Lebenszeit nachzuholen

Im Gespräch spüren wir beide aber auch einen starken Schmerz der Seminarteilnehmer, ihr Leben verpasst zu haben. Ein erfolgreicher Geschäftsführer berichtet, wie er die wichtigsten Jahre mit seinen Kindern versäumt hat. Während sie aufwuchsen, war er ganz mit seiner Karriere beschäftigt. Jetzt hat er Zeit, doch die Kinder sind längst aus dem Haus. Wie gerne würde er diese verlorene Lebensphase nachholen. Doch sie ist passé.

Während ich diese Zeilen schreibe, kreisen Hunderte von Kranichen über dem Gutshof. Seit Tagen ziehen sie durch den strahlendblauen Novemberhimmel in ihre Winterquartiere im Süden. In mir lösen sie ein tiefes Fernweh aus, wieder einmal die Welt zu bereisen. Ich erinnere mich an den bewegenden Dokumentarfilm „Nomaden der Lüfte“, der den Zuschauer um den Globus führt. Zu gerne würde ich den Zugvögeln folgen und neue Länder erkunden.

Vor zehn Jahren habe ich mir den Bestseller gekauft: „1.000 Orte, die man sehen muss, bevor man stirbt“. Hungrig wie ein Briefmarkensammler, der nach der „Blauen Mauritius“ giert, habe ich nach den ultimativen Orten gesucht, die ich auf keinen Fall verpassen wollte. 

Was steht noch auf der Löffelliste?

Mein Reisefieber wurde verstärkt von Norman Freemann und Jack Nickolson, die im Film „Das Beste kommt zum Schluss“ zu ihrer ultimativen Weltreise aufbrechen, um ihre Löffelliste abzuhaken. Also schrieb ich auch meine ultimative Sehnsuchtsliste: Taj Mahal, Macchu Piccu, Oper von Sydney, Ankor Wat und die Chinesische Mauer. 

An dieser Stelle runzeln meine langjähren Freunde sicherlich die Stirn. Sie wissen, dass ich als Filmemacher bereits viele Orte bereist habe. Doch dann halte ich einen Moment inne und frage mich: Was treibt mich beim Reisen an? Was löst diese innere Unruhe aus? Ich überlege mir, ob dies nicht auch eine Flucht aus der Realität ist? Raus aus dem Stress des Alltags, der Überforderung durch die ständige Erreichbarkeit?

Ich denke an die Beerdigung meines geliebten Großvaters 1972, damals war ich noch ein elfjähriger Junge. Zum Abschied hatte er sich ein altes Kirchenlied gewünscht, das mir bis heute nicht aus dem Kopf geht: „Ich bin durch die Welt gegangen, und die Welt ist schön und groß, und doch ziehet mein Verlangen mich weit von der Erde los. Ich habe die Menschen gesehen, und sie suchen spät und früh, sie schaffen, sie kommen und gehen, und ihr Leben ist Arbeit und Müh. Sie suchen, was sie nicht finden, in Liebe und Ehre und Glück, und sie kommen belastet mit Sünden und unbefriedigt zurück.“ Geschrieben hat es Eleonore Fürstin von Reuß 1867 in einer Zeit, die wie heute von starken gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt war. 

Auch wenn dieses Lied heute nicht mehr zeitgemäß klingt, drückt es doch eine tiefe Erkenntnis aus: Ich kann die ganze Welt umrunden und kehre mitunter doch leer zurück. 

Um mich selbst zu finden und den Sinn meines Lebens zu erkennen, muss ich eine innere Reise antreten: meinen Stärken und Schwächen auf die Spur kommen, die inneren Antreiber erkennen. 


Rainer Wälde

Rainer Wälde liebt es, durch Filme, Bücher und Vorträge seine Zuhörer in ihrer Originalität zu ermutigen.
In seinem wöchentlichen Blog erzählt er ihre Geschichten.

www.rainerwaelde.de

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