Es ist nie zu spät, neu anzufangen

von | 20.01.2020 | Biografie

Monika ist ziemlich aufgeregt: „In einem Jahr will mein Mann mit 60 Jahren aus dem Job aussteigen. Ich habe jetzt schon Panik, wenn ich daran denke!“ Meine Frau und ich versuchen, sie zu verstehen: „Wovor hast du Angst?“ Sie macht eine kurze Pause, dann erklärt sie: „Wir haben so unterschiedliche Lebensrhythmen. Ich bin Frühaufsteher, er schläft lange aus. Ich bin noch etliche Jahre berufstätig und will nicht mein ganzes Leben von ihm bestimmen lassen!“

Foto: Shutterstock

Freude auf den neuen Lebensabschnitt

Während Monika ihre Ängste benennt, sitzt Jürgen mit großen Augen daneben und kann die Aufregung seiner Frau überhaupt nicht verstehen. Er freut sich auf seinen neuen Lebensabschnitt und macht sich wenig Gedanken über seine Zukunft: „Das wird schon, ich weiß gar nicht, was Monika für ein Problem hat.“ Nach etlichem Zureden erklärt er sich schließlich bereit, mit seiner Frau zu einem Biografie-Seminar zu gehen, um die neue Lebensphase gemeinsam zu planen.

Aktuell bereiten sich in Deutschland 13 Millionen Menschen auf diesen Lebensabschnitt vor: Die sogenannten Babyboomer, die in den geburtenstarken Jahren zwischen 1955 und 1968 geboren wurden, verlassen nach und nach das Berufsleben. Wie Monika und Jürgen überlegen sie konkret, wie sie das nächste Lebensdrittel gestalten wollen. Nach einer aktuellen Studie der Körber-Stiftung („Aufbruch 2018“) kann sich die Hälfte vorstellen, „in Vereinen, Projekten oder sozialen Unternehmen mitzuarbeiten. Ein kleiner Teil erwägt sogar, derartige Initiativen selbst anzustoßen.“

Was sind die Schätze meiner eigenen Lebensgeschichte?

Doch vor dem Neuanfang steht zuerst einmal die Lebensrückschau. Aus diesem Grund haben Ilona und ich vor zwei Jahren den Goldzirkel gegründet. Wir laden Frauen und Männer wie Monika und Jürgen ein, sich drei Tage lang aktiv mit ihrer eigenen Biografie zu beschäftigen: Was sind die Schätze meiner eigenen Lebensgeschichte? Worauf bin ich stolz? Welche Muster erkenne ich in meiner Biografie? Bei dieser Lebensbilanz erleben wir ganz unterschiedliche Reaktionen: Manche sind ganz glücklich, wenn sie über ihre bisherige Lebensreise nachdenken. Bei anderen kommen Schmerz und Enttäuschung hoch.

Ich erinnere mich an einen erfolgreichen Geschäftsführer Mitte 50, der ein großes Unternehmen geleitet hat. Stolz berichtet er von den zahlreichen Projekten, die er erfolgreich umgesetzt hat. Dann kommt er ins Stocken und senkt seinen Blick: „Aber ich habe die gesamte Kindheit und Jugend meiner drei Kinder verpasst. Ich war viel unterwegs, ich habe diese wichtige Phase nicht miterlebt!“ Gerade dieses ungelebte Leben liegt wie eine Bürde auf seinen Schultern und blockiert den Neuanfang. Natürlich kann er diese Zeit nicht nachholen, aber jetzt die Entscheidung treffen, aktiv Qualitätszeit mit seinen Kindern zu planen. 

Ilona und mir ist es ein besonderes Anliegen, dass wir unseren Gästen helfen, wirklich Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, um frei zu werden für einen Neubeginn. Damit dies gelingt, haben wir vor zwölf Jahren die „Landkarte des Lebens“ entwickelt. Wie bei einer Wanderkarte zeichnet jeder Gast eine topografische Karte seines bisherigen Lebens. Darin werden auch alle Höhen und Tiefen eingezeichnet, die Glücksmomente und die Schmerzzonen. Ganz offen sprechen wir über das biografische Gedächtnis, das jeder von uns in sich trägt und das häufig aus dem Unbewussten heraus die Entscheidungen für die Zukunft prägt. 

Spüren Sie noch den Lockruf eines erfüllten Lebens?

Nach einem Vortrag, den ich für eine Volksbank halte, lerne ich ein Ehepaar Anfang 50 kennen. Beide sind Fluglotsen und bereits im Ruhestand, was in diesem Beruf üblich ist. Beim gemeinsamen Essen entwickelt sich schnell ein sehr persönliches Gespräch. Ich bin neugierig, welche Träume und Pläne die beiden für die kommenden Jahre haben. Überraschenderweise kommt wenig Konkretes. Ich frage, ob es ihnen nicht langweilig wird, in den Meisterjahren des Lebens ohne Ziel und Vision zu Hause zu sitzen. Fragend schauen die beiden mich an. Um die Woche etwas zu strukturieren, teilen sie ihre Einkäufe auf: jeden Tag ein bisschen shoppen. Etwas im Garten sitzen, einen Kaffee trinken, mehr nicht. Beim Zuhören spüre ich: Das mag ab 70 Jahren ein stimmiges Lebenskonzept sein, doch mir wäre das Anfang 50 deutlich zu wenig! Ich versuche, die beiden aus der Reserve zu locken, doch offensichtlich fehlt ihnen die Vision und auch der Blick für eine Berufung für die kommenden 15 oder gar 20 Jahre.

Meine Frau und ich sind beide sehr abenteuerlustig: Mit dem Gutshof hat sich einer unserer größten Lebensträume verwirklicht. Die Suche über zehn Jahre und auch die vielfältigen Aufgaben empfinden wir als tägliches Abenteuer. Es reizt uns beide, neue Seminare zu entwickeln, uns bundesweit mit Gefährten zu vernetzen, unsere neue Heimat, die Region Nordhessen voranzubringen. Im nächsten Jahr steht der 60. Geburtstag an – doch das ist für uns kein Grund, es langsam auslaufen zu lassen. Im Gegenteil: Wir sind so begeistert und voller Feuer, dass wir gerne noch weitere 18 Jahre beruflich und gesellschaftlich aktiv sein möchten. Bis zum 70. Geburtstag wollen wir gerne unsere Nachfolger finden und sie begleiten, bis wir beide 77 Jahre alt sind. 

Die Welt rollt den roten Teppich aus

Auch im Goldzirkel begegnen wir Menschen in unserem Alter, die aktiv den Neuanfang wagen. Ein Handwerker berichtet, dass er sein Wissen gern an die nächste Generation weitergeben möchte. Als Mentor möchte er junge Menschen begleiten. Eine Mutter überlegt sich, wie sie die neue Lebensphase gestaltet, wenn ihre Kinder das Studium abgeschlossen haben. Die Heidelberger Ärztin Dr. med. Susanne Hofmeister hat dazu einen schönen Begriff gefunden: „Mittsommerzeit“ nennt sie diesen Abschnitt des Lebens. Mit dem 50. Geburtstag beginnt nach ihrer Beobachtung „die Feier des Lebens und die Welt rollt den roten Teppich aus.“

Mir gefällt dieses Bild, weil es zwei Phänomene beschreibt, die Ilona und ich selbst erfahren haben: Zum einen lassen die physischen Kräfte nach, das hilft uns ganz natürlich, uns zu fokussieren und die Energie auf das Wesentliche zu richten. Zum anderen werden unser Rat und auch die Lebenserfahrung gefragt. Doch das eigentliche Glück: Wir profitieren von dem Erfahrungsschatz aus der Gruppe und unterstützen uns gegenseitig, damit die Träume auch im Alltag realisiert werden. So wie Monika und Jürgen, die beide gelernt haben, ihre Wünsche klar zu benennen. Mittlerweile ist Jürgen bereits ein Jahr zu Hause und Monika berichtet, wie entspannt auch die neue Lebensphase gelingt.


Rainer Wälde

Rainer Wälde liebt es, durch Filme, Bücher und Vorträge seine Zuhörer in ihrer Originalität zu ermutigen.
In seinem wöchentlichen Blog erzählt er ihre Geschichten.

www.rainerwaelde.de

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